Logbuch #7: Händchenhalten mit der Gegenwart

von Caroline Rossow

Er hat sich auf diesen Tag vorbereitet. Aus einer Schublade an der Flurgarderobe greift er mit steiflichen Fingern ein Klappmäppchen. Es zieht sich in die Länge, ist gerade ein paar Zentimeter hoch, riecht nach Staub und Weile. Der rotbraune Falschledereinband furcht stark und umhüllt eine Galerie Miniaturportraits, Fassaden der Vergangenheit, aus jedem Jahrzehnt ein Passbild seines Gesichts. Er folgt dem lichtbildnerischen Zeitstrahl mit der weichen Fingerkuppe. Das letzte in der Reihe hat er vor einer Woche anfertigen lassen. Es war eine rasche Abwicklung. Nun schaut er sich entgegen – frontal, formatfüllend. Und trotz der vom Fotografen angewiesenen Mimiklosigkeit bewegt sich ein Hader durch die abgelichtete Miene. In den ersten Versionen seines Abbildes fehlt diese Nuance. Die Jahrzehnte haben seinen Mundwinkeln Gewichte eingehängt und Wolken vor den Blick geschoben. Er versenkt das Mäppchen in der Manteltasche, rutscht mit der besockten Färse am verchromten Anzieher entlang in akkuart geputzte Schuhe und greift sich seinen Hut. Er möchte rechtzeitig an der Haltestelle sein, von der aus ihn ein Bus zum Rathaus fahren wird. Er hat einen Termin im Internet vereinbart. Sein Personalausweis wird verlängert. Er musste einige Male an unterschiedlichen Tagen dem gebookmarkten URL-Pfad folgen, um endlich einen freien Slot belegen zu können. Das ist kein Umstand für ihn. Er ist von gestern, hält aber Händchen mit der Gegenwart. „Hoffentlich dauert das nicht wieder so lang.“, denkt er und schaut auf die Zeitanzeige seines Smartphones. Er hat zwar keine weiteren Pläne für den Tag, aber ist nicht gern unter Menschen. Sie drücken das Gefühl von Einsamkeit in seinen Brustkorb. Im Bus sind die Leute weit weg, ihre Aufmerksamkeit nimmt nur das Ferne wahr. Er setzt sich auf den freien Platz neben eine Frau, die in ihrem Bildschirm das scheinbar schwunghafte Leben derer betrachtet, die eigentlich auch gerade irgendwo in einem Bus sitzen oder im Wartesaal. „Vom Höhlenmensch zum Hüllenmensch. Abhandlung zur Menschheitsgeschichte.“, sinniert er. Rathausplatz. Er ist da. Das Einwohnermeldeamt in seiner Heimatstadt war ein dreistöckiger Plattenbau, eine Kiste. Dort war er zuletzt in der Zeit aus der das erste Gesicht seiner Passbildmappe stammt. Architektonisch gefällt ihm das Kieler Rathaus besser. Trotzdem hat er oft das Gefühl, in weiten Räumen sei mehr Platz für Leere. Das könne auch daran liegen, dass die Leere der Leute in Sälen mehr Widerhall finde. Ausweichende Blicke, unterdrücktes Hüsteln, angestrengtes Nichtbeachten, routinierte Mimiklosigkeit – das alles vertärkt sich in einem solchen Resonanzraum zu einem eintönigen Piepen. Ein Ton, den vielleicht alle wahrnehmen, aber den jeder zu ignorieren versucht, weil er sonst schrill ins Gemüt fährt.

Der Termin zur Ausweisaktualisierung gleitet reibungslos vorbei. Eine freundliche, junge Frau stellt geübt die nötigen Fragen. Sattelfest bedient sie das Schlachtross der Amtssoftware, verschwindet dazu hinter einem hünenhaften Bildschirm, schafft es aber, immer wieder kurz den nötigen Blickkontakt herzustellen. Ein Sandkorn fällt durch den Schlund der Zeit und schon steht der Mann wieder auf dem Rathausplatz. „Euch hätte ich dafür eigentlich gar nicht putzen müssen.“, sagt er und betrachtet das blanke Leder an seinen Füßen. Ein wenig unentschieden, wohin ihn diese Schuhe nun bringen sollen, zieht er seinen Blick ein und streift dabei eine Hütte. Radachsen lassen sie einen halben Meter über dem Boden schweben. Zwei silbrige Turmspitzen ragen aus ihr auf und werfen eingefangene Sonne schillernd ringsum auf den Boden.

Zwischen und auf den Lichtpunkten stehen Menschen. Sie sehen einander an, reden, bewegen dabei das Kinn nickend auf und ab oder legen es konzentriert in die Aussparung zwischen Daumen und Zeigefinger. Auf pastellgrünspanigem Untergrund hat jemand den Wagen in Kleinbuchstaben beschriftet: „tiny rathaus“. „Ein ausgelagertes Rathäuschen also.“, denkt der Mann. Es zieht ihn hinüber in die Blase aus munterem Gemurmel. Mehrere freundliche Blicke treffen seinen unsicheren. Einer gehört zu einer hoch gewachsenen Frau mit wilden Locken. „Verzeihung, …“, spricht er sie an, „… kann man hier die wesentlichen Amtsdinge erledigen? Kann man hier seinen Ausweis verlängern?“. Noch bevor die Frau antwortet, erklärt eine Stimme von links in angenehm beflissenem Klang. „Ja, das Wesentliche wird hier angegangen.“, und die belockte Frau fügt hinzu: „Aber wir erstellen keine Papiere. Wir begegnen einander. Die Stadt verwaltet. Aber vor allem gestaltet sie. Das bleibt vielen oft verborgen. Und die Stadt gestaltet nicht allein, sie tut es zusammen mit den Menschen und Bürger*innen. Auch das versteckt sich oft. Deshalb braucht es einen Ort, an dem alle zusammenkommen, Gemeinschaftsprojekte vorgestellt werden, Zeit für Gespräche ist, Hemmschwellen abschleifen und deutlich wird, dass die Stadt nicht von Fremden gemacht wird, sondern von allen Bewohner*innen. Sie müssen sich dessen nur bewusst sein.“

„Das betrifft mich kaum.“, antwortet der Mann. „Ich bin Rentner, meine wichtigen Zeiten liegen längst hinter mir. Ich kann auch nicht viel. Was soll ich mich da einmischen?“. Eine andere Frau mit leuchtend kolorierter Bluse beugt sich im Vorbeigehen zu ihm herüber: „Sie sind ein Bewohner. Das reicht aus. Alles, was es jetzt noch braucht, ist Information. Einen der Orte dafür haben Sie gerade entdeckt.“, und legt lächelnd ein Faltblatt in seine Hand. Mit selbstbewusstem Schmunzeln kommt eine weitere Person in gut geputzten Schuhen direkt auf ihn zu: „Sie wissen, wie man mit einem Smartphone umgeht?“. Der Mann nickt. „Was denken Sie, wie wir es schaffen können, alle Bürger*innen an das Verfahren der Terminbuchungen über die Onlineplattformen heranzuführen?“. Er überlegt kurz, bevor er antwortet. Eine Weile noch hält die um das kleine Rathaus flötende Lebendigkeit ihn vor Ort. Er wird nach seiner Meinung gefragt, nach seinen Erfahrungen, einige erbeten seine Zeit, andere offenbaren Möglichkeiten, einige klingen wie Träumer*innen, andere wie Macher*innen. Als er fortgeht hält er in der  Hand das Faltblatt mit den nächsten Terminen zu Mitgestaltungsmöglichkeiten der Stadt, seiner Stadt. „Vielleicht, vielleicht.“, brummelt es aus ihm heraus. Zwei unsichtbare Fäden finden Halt an seinen Mundwinkeln und ziehen sie sanft in die Höhe.

Illustrationen von Gregor Hinz