Logbuch #8: Vom barrierefreien Wegweisen und Pfadfinden
von Caroline Rossow
„Dack-schmett-viß-tatt-lass-lisch-schmett-gappelin-tin.“ Sie versteht kein Wort, aber erwidert das freundliche Lächeln des Mannes mit der harschen Aussprache. Er schaut sie gespannt an, wartet kurz, blickt in den Kinderwagen. Sie überlegt. Dann nickt sie. Das scheint ihm zu genügen. Er summt noch einen munteren Laut in die Luft und geht seines Weges. Auf den Spaziergängen um den Park liefen sie schon häufig aufeinander zu. Man begann damit, das Erkennen des anderen gestisch zu untermalen: kurzes Augenbrauenheben, Lächeln, Handzeichen. In der Begegnungsroutine sind sie nun offenbar an der Schwelle zum Smalltalk angelangt. Sie ist verunsichert. Die Phase des schweigenden Zunickens gefiel ihr besser. Zwar wird ihr ein Vorankommen im Erlernen der deutschen Sprache von der Integrationskursleiterin regelmäßig bestätigt, im Alltag hat ihr das bisher nicht viel genützt. Zu schnell, zu verschluckt, zu zerhackt kommen die Silben der Sprechenden noch immer an ihren Trommelfellen an. Schon einige Male hat sie versucht, die Kassiererin im Supermarkt nach zuckerfreien Maisflips für die Kleine zu fragen und erhielt als Antwort eifriges Geräuschgeplätscher – und immer wieder nur Tortillachips. Auch würde sie gern wissen, wo wohl der nächste Spielplatz zu finden sei. Ihre Tochter wird bald laufen lernen. In der Nähe konnte sie bisher keinen entdecken. Weit über den Horizont des Parks hinaus ist sie allerdings auch noch nicht gekommen, die fehlende Sprach- und Ortskenntnis lässt sie nur zaghaft die Umgebung erkunden. Eigentlich umrundet sie immer nur den Park, Tag für Tag, mehrfach, immer mit Kinderwagen und oft von ihrer Schwiegermutter begleitet. Aber die spricht auch nur Ukrainisch und Russisch, meistens Surschyk.
Er nimmt jeden Tag den gleichen Weg unter die Füße: quer durch den Park. So gelangt er am schnellsten von der integrativen Kita seines Sohnes zum Einkaufszentrum. Dort arbeitet er als Hausmeister. Der Posten gefällt ihm. Er mag Menschen und noch mehr mag er es, wenn er ihnen behilflich sein kann. Die Leute kennen ihn im Viertel und er kennt die Leute, nicht jeden beim Namen, aber bei ihrem Gesicht. Er hat für alle ein freundliches Wort oder wenigstens ein herzliches Nicken parat. Zwei Spielplätze gibt es in der Umgebung. Einer liegt versteckt auf einem Hinterhof, kaum bekannt, und besteht aus einer Tischtennisplatte und einem auf einer Sprungfeder wippenden Dino. Ein weiterer befindet sich auf der anderen Seite der mehrspurigen Hauptstraße und ist eine Kletterstation aus verschiedenen Seilgeweben. Dort sieht es aus, als hätten sich verschiedene Spinnenarten getroffen, um gemeinsam eine Pyramide zu bauen. Integrativ für Achtbeiner, nicht so sehr für Menschen, nicht für seinen Sohn. Die Kletterei ist dabei kaum ein Problem. Sein Sohn besitzt die Fähigkeit, sich mit Oberarmkraft behände wie ein Äffchen durch die Welt zu manövrieren. Aber der Kletterkegel wurde inmitten eines großen Sandkastens gesetzt. Es könnte auch ein Moor sein, der Unterschied ist gering: Der Rollstuhl bleibt unnachgiebig stecken. Er hat schon oft überlegt, ob er nicht einen hölzernen Steg durch den Sandsumpf bauen solle, aber dazu braucht es Genehmigungen und er weiß nicht, woher er die bekommen soll. Wo überhaupt anfangen? Wen überhaupt fragen?
Es ist wirklich nicht mehr dasselbe, seit sie diesen rollenden Gehkraftverstärker vor sich herschiebt. Froh ist sie drüber, sonst ginge ja gar nichts mehr, aber ihr Blick für Wege hat sich verändert. Er tastet die vor ihr liegende Strecke unaufhörlich nach begehbaren Routen ab. Taucht eine Stufe auf, holpriger Untergrund, eine Kuhle oder fehlt die Absenkung im Bordstein, ist der Pfad nicht mehr Teil ihres Lebensraums. Der Weg und alles, wozu er eine Verbindung schaffen soll, ist dann Grauzone, Paralleluniversum, nicht existent. Das ist ein Unterschied. Früher stand ihr die ganze Welt offen. Als Dolmetscherin war sie im Grunde überall auf dem Planeten, mit allen im Gespräch, frei, unbeschränkt. Jetzt ist ihr Viertel ihr Biotop, jedenfalls der Teil, der für sie wegsam ist. Und ins Reden kommt sie nur mit denen, die sie erreichen kann. Ihr Scanner entdeckt deshalb gleich, dass das plötzlich vor ihr liegende Haus zu ihrem Kosmos gehört.
Pastellgrün, verchromt gekrönt und wohnwagenartig aufgebockt nimmt es den Platz an der Ecke des Parkes ganz für sich ein. Seitlich kennzeichnet eine stabile Rampe den Pfad, der in das Innere des Häuschens führt. Mit „tiny rathaus“ ist das Gebäude beschriftet und beschrieben. An einem kleinen Tisch unterhalten sich angeregt zwei Herren. Einer trägt T-Shirt und professionalisiert die Formlosigkeit mit einem gut sitzenden Jackett. Der schräg gelegte Kopf untermalt einen interessierten Blick, mit dem er seinem Gesprächspartner folgt. Diesen kleidet eine blaue Latzhose mit Schnappverschlüssen und vielerlei aufgenähten Täschchen. „An sich kein großer Aufwand, hab’s mir angesehen, die meisten Spielplätze sind durch wenige zusätzliche Aufbauten problemlos anpassbar. Dann können da auch Rollstuhlfahrende hin. Vielleicht machen Sie da mal was in die Richtung?“ Eine junge Frau mit Kinderwagen wurde offenbar auch von der Rampe eingeladen und steht oben am Geländer, ein paar Schritte vom Eingang enfernt, zurückhaltend. Sie schaut auf die Münder der Redenden, spannt die Unterlider an, als helfe es dabei, besser zu verstehen. „Dytyachyy maydanchyk.“, murmelt ihr Mund ihren Ohren zu, „Sie sprechen über Spielplatze.“ „Stimmt.“, erhält sie unerwartet Antwort. Sie blickt sich um und sieht neben sich eine Person mit Rollator die Auffahrt heraufkommen: „Darf ich beim Übersetzen helfen?“ Unaufdringlich sieht ihr die ältere Dame entgegen. „Ja, das wäre sehr nett. Sehr vielen Dank.“ „Sie sagen, es müsse mehr Spielplätze geben und die sollten auch so gut es geht barrierefrei sein. Das ist wohl in der Gestaltung nicht schwer. An den Ortsbeirat solle man sich wenden. Der setzt sich dann für die Sache ein. Die Sitzungen sind öffentlich. Jeder kann hin.“ „Dann sollten wir das tun, nicht wahr?“ Jetzt dreht sich auch der Mann in der Latzhose um. Alle nicken einander zu. Man kennt sich, vom Sehen. Täglich nutzt man dieselben Wege. „Moritz.“, sagt er und streckt die Hand aus. „Irmgard.“ – „Antonina.“, erhält er zur Antwort. „Am nächsten Donnerstag ist das nächste Ortsbeirats-
Treffen. Haben Sie da Zeit?“ – „Ja.“, sagt Irmgard und die junge Frau anlächelnd fügt sie hinzu: „Keine Sorge, ich übersetze.“ „Ja.“, sagt Antonina.
Aus dem Netz des Kinderwagens greift sie fröhlich eine Tüte Tortillachips und reicht sie herum. „Wo gibt es zuckerfreie Maisflips?“ – „Haben sie es in der Drogerie versucht?“
Illustrationen von Gregor Hinz