Logbuch #6: Tragende Rollen: Dem Rathaus Beine machen
von Caroline Rossow
Es wusste nichts von seinem Anfang und davon, wie einst eine Vorausdenkerin schneiderartig dagesessen und sich den Kopf mit Ideen befüllt hatte. Den Blick fest in die Ferne auf einen noch konturlosen Plan fixiert, fischte sie konzentriert einen Einfall nach dem anderen aus dem sie umflirrenden Gedankenschwarm: „Bürger*innen soll klar sein, dass sie im Stadtmachen-Spiel auf das Feld gehören, nicht an den Rand. Der Ball muss zwischen Verwaltung und Bewohner*innen hin- und herrollen. Mobilisierende Mobilität. Das Rathaus soll auf die Leuten zugehen. Es braucht Beine. Nein. Es braucht einen Ball. Ist auch Quatsch. Das Rathaus braucht Rollen. Noch besser: Es braucht Räder. Es ist zu groß für Räder. Wir machen es klein. Dann passen keine Menschen mehr hinein. Wir nehmen nur einen Raum, den schneiden wir heraus. Zu kompliziert. Wir bauen es neu. Ein Neues Rathaus gibt es schon. Dann bekommt die Rathaus-Familie halt Nachwuchs, kleinen Nachwuchs, ein kleines Rathaus, wie ein Tiny Haus – ein Tiny Rathaus!“ Allmählich formte sich Erleuchtung aus den vielen Geistesblitzen.
Etwas später stand es da, das Neugeborene, und blickte unsicher an sich hinunter: „Ob dieses Kleid zu groß für mich ist? Werden die Leute mich auslachen? Ich fülle es gar nicht richtig aus. Man, bin ich klein. Wie sollen all die Sorgen, Gedanken und Motivationen der Bürger*innen in mich hineinpassen?“. Die pastellgrüne Erscheinung hatte es von seinen Eltern geerbt: ein Hauch des oxidierten Kupferdachs, das auch der große, ikonische Rathausturm stolz über Kiel aufschimmern ließ. Gleich zwei Abbilder ebendieses prächtigen Wahrzeichens erhoben sich am Haupt des mobilen Abkömmlings, chromfunkelnd, kronengleich. „Hochstapelnd.“, dachte es.
Und dann war seine Überraschung groß, es selbst plötzlich überraschend groß. Der Rand der Tiny-Rathaus-Welt ist nicht die Kante der Wagenplattform. Wo immer die Achsen es hintragen, wird der Außenraum zum Rathausplatz, die Umgebung zum Rathausviertel. Es bildet den Mittelpunkt einer Sphäre, eine ausgelagerte Bubble mit direktem Draht zur Hauptzentrale. Es
erreicht Gemüter in jeder Ecke, deren Inspirationsfunken das in der Stadt wurzelnde Gebäudegebilde bisher nicht gesehen hatte. Das Tiny Rathaus ist so groß wie das Umfeld, das sich in seinen Türmen reflektiert und so zahlreich wie die Menschen, die sich in ihnen spiegeln. Es dehnt sich aus bis in die Fingerspitzen der etwas entfernter stehenden, neugierigen Passanten, die im Vorübergehen prompt anfangen, sich Gedanken um das eigene Handlungspotential zu machen. Es erstreckt sich bis hin zur einige Straßen weiter weg lebenden Familie, die sich schon im Vorfeld über das Programm informiert hat und die Gelegenheit nutzen wird, um drängende Fragen zu stellen. Und es reicht bis in die regionalen Werkstätten der Handwerker, die es errichtet haben, sich immernoch nach seinem Zustand erkundigen und die Erfahrungen der Erbauung mit in neue Projekte tragen. Es langt bis dorthin zurück wo die Materialien seiner Wände aus wiederverwerteten Tetrapacks erschaffen wurden. Ein neues Haus mit alter Seele. Ein kleines Haus mit stattlichem Radius und bemerkenswerter Armlänge.
Und heute, immer, wenn es ausfährt, den Raum um sich zur Wirkstätte verwandelt, den Platz umher zum Vorgarten der Stadtverwaltung erhebt, es so dasteht und sich ausstreckt, spürt es an den Kuppen seiner äußersten Ausläufer einen Luftstrom, einen Krafthauch, eine Chance. Dann denkt es: „Eigentlich müsste es überall Tiny Rathäuser geben, in jeder Stadt, bewegte Bewegung um neue Wege zu bauen.”
Illustrationen von Gregor Hinz